Sheriff für einen Tag Teil 1
Wie ich damals zum Sheriff wurde

Titelbild Sheriff für einen Tag Teil 1

Ob du es glaubst oder nicht – tatsächlich war ich auch mal Sheriff.  Wirklich wahr. Nicht für sehr lange, genauer gesagt, nur für einen Tag und es ist auch schon eine ganze Weile her.  Da muss ich wohl so fünf oder höchstens sechs Jahre alt gewesen sein, irgendwann Ende der siebziger Jahre, in dem kleinen Dorf an der Nordseeküste, in dem ich aufgewachsen bin.

Eigentlich war Ammerswurth  nicht mal ein Dorf, denn es bestand nur aus acht alten Bauernhöfen und war schon vor vielen Jahrzehnten in die nächstgelegene Kleinstadt eingemeindet worden. Dafür war mein Vater verantwortlich, zumindest erzählte er es zeitlebens so. Als er noch ein kleiner Junge war und gerade dabei war, genau wie ich dann später, dort aufzuwachsen, gab es in Ammerswurth neben den acht Höfen sogar noch eine Bushaltestelle. Nicht so eine mit einem Häuschen zum Warten, sondern nur ein Schild, an dem der Bus anhielt. Dieses Schild hat mein Vater, der wohl ein ziemlich frecher Junge gewesen muss, eines Tages aus einer Laune heraus abgesägt. Fortan hätte dort nie wieder ein Bus gehalten, versicherte mein Vater mir, und irgendwie soll das schlussendlich dazu geführt haben, dass Ammerswurth seinen Status als eigenständige Gemeinde verlor.

Ob und wie sich das in Wahrheit zugetragen hat, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Laut dem Archiv der Stadt Meldorf wurde Ammerswurth bereits im Jahr 1935 eingemeindet. Vertraut man nun zugleich diesen Aufzeichnungen und den Aussagen meines Vaters,  muss man schlussfolgern, dass mein Vater genau ein Jahr alt war, als er das Bushaltestellenschild abgesägt hat. Das erscheint vielleicht etwas unwahrscheinlich, aber vollkommen auszuschließen ist es ja immerhin nicht. Sicher ist jedoch eins: wäre ich als Sheriff damals zu Stelle gewesen, hätte ich den Übeltäter erfolgreich auf frischer Tat ertappt. Damit hätte ich sowohl die Bushaltestelle als auch das Dorf gerettet. Ganz bestimmt wäre  ich dann auch länger Sheriff geblieben als nur für einen Tag.

In Wahrheit hatte ich als Dorfsheriff keinen solchen Erfolg zu verbuchen, genauer gesagt war alles, was ich zu verbuchen hatte, ein Misserfolg nach dem anderen und so wurde es eine sehr kurze Karriere.  Bereits vor dem Abendessen hängte ich meinen neuen Job wieder an den Nagel. Aber ich fange am falschen Ende der Geschichte an, sie beginnt ganz anders, nämlich am Anfang. Du weißt ja noch nicht mal, wie ich damals überhaupt zum Sheriff geworden bin. Das begab sich nämlich  so:

Sheriff für einen Tag Teil 1:
Wie ich zum Sheriff wurde

Darüber, was ein Sheriff ist und wie man zum Sheriff wird, wusste ich auch als kleines Mädchen schon genau Bescheid. Wir hatten zwar nur einen Schwarz-Weißfernseher und Programme gab es nur drei, aber im Vorabendprogramm  gab es manchmal Western. Die waren sogar damals schon uralt. Trotzdem habe ich viel über den wilden Westen daraus gelernt. Ein Sheriff ist nämlich so etwas wie ein Polizist, nur dass er anders angezogen ist und immer breitbeinig läuft. Er hat einen Cowboyhut auf, schießt viel mit einer großen Pistole, jagt Banditen und er hat einen silbernen Stern, damit  jeder gleich erkennt, dass er zu den Guten gehört. Und Sheriff wirst du, wenn ein alter Sheriff dir auch so  einen silbernen Stern gibt.

Bei mir war das ein bisschen anders, aber wirklich nur ein bisschen. So einen silbernen Sheriffstern bekam ich nämlich auch. Nur sah der Mann, der ihn mir überreichte, gar nicht wie ein Sheriff aus. Er stand auf dem Marktplatz und eigentlich sah er tatsächlich eher wie ein Bandit aus. Er hatte ein kariertes Taschentuch vor dem Gesicht, genau wie die Bösen in den alten Western. Zudem hatte er ein Mikrofon, in das er ohne Pause so etwas wie „Wünnewünnewünne!“ rief. Hinter ihm waren hohe Regale aufgebaut, in denen die größten Stofftiere saßen, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Riesengroße Teddybären, meterlange blau-grüne Schlangen und andere, nicht näher bestimmbare Tiere gab es da. Dazwischen standen noch ganz andere Dinge, die für mich irgendwie nicht dazu passten. Ich sah Kassettenrekorder, Kaffeegeschirr und Pakete, in denen vielleicht Bettwäsche oder Tischdecken gewesen sein können. Vielleicht waren da auch noch Schnapsflaschen. Bei dem Punkt bin ich mir nicht mehr ganz sicher, aber an alles, was dann geschah, erinnere ich mich haargenau.

Während ich noch die riesigen Plüschtiere bestaunte und mich fragte, ob man einen so großen Teddy überhaupt tragen könne, geschweige denn richtig mit ihm spielen, ging mein Vater zu dem Banditen und gab ihm ein Geldstück. Der rief weiter „Wünnewünnewünne!“ in sein Mikrofon und kam mit einer durchsichtigen Schüssel auf mich zu, in der viele kleine Papierröllchen lagen. Um jedes Röllchen war ein kleiner Gummiring gezogen, damit es nicht aufgehen sollte, vermutete ich. Der Bandit streckte mir die Schüssel entgegen und mein Vater sagte, ich dürfe jetzt drei Röllchen herausnehmen.

Es gab graue, grau-bläuliche, grau-rötliche und grau-grünliche Röllchen. Die Farben waren nicht so wirklich schön, eher so ausgeblichen und schmuddelig wie das Papier von den vollgeschriebenen alten Heften, die bei uns zu Hause im Schrank auf dem Dachboden lagen. So richtig wusste ich nicht, ob ich solche Röllchen überhaupt haben wollte und gebrauchen könnte, aber mein Vater stupste mich an und nach einigem Zögern nahm ich dann drei grau-grünliche. Grün war nämlich meine Lieblingsfarbe. Soweit so gut. Da stand ich nun und hatte drei Papierröllchen. „Nun mach sie schon auf!“, sagte mein Vater. Er nahm eins der Röllchen, streifte den kleinen Gummiring ab und entrollte das Papier. Ein ziemlich langer Papierstreifen wurde das. Er war von oben bis unten mit einem gräulichen Karomuster bedruckt, einzig am untersten Rand stand etwas geschrieben. Was da stand, kann ich dir natürlich nicht sagen.  Ich konnte zwar richtig viel, aber lesen konnte ich im Kindergartenalter noch nicht. Heute, über 40 Jahre später, hätte ich da zwar so eine Vermutung, was da gestanden habe könnte, aber Vermutungen gehören ja nicht in eine wahre Geschichte, also behalte ich sie für mich.

Es waren ja auch noch zwei Röllchen übrig und nun war ich an der Reihe, die Gummibänder abzufummeln und sie zu entrollen. Die Papierstreifen, die zum Vorschein kamen, sahen haargenau so aus wie der erste. Erst ganz viele Karos und dann am unteren Rand ein bisschen  Schrift. Was sollte ich damit nun anfangen? Ein wenig ratlos blickte ich meinen Vater an, der mir bedeutete, ich solle nun wieder zu dem Banditen gehen und ihm entrollten Papierröllchen zurückgeben. So langsam fand ich das alles doch recht seltsam. Hatte mein Vater dem Mann das Geld nur dafür gegeben, dass wir seine Röllchen aufmachen und uns diese komischen Karomuster anschauen durften? So recht verstand ich das nicht, aber ich vertraute einfach mal auf meinen Vater. Irgendeinen einen Sinn würde er schon in der Sache sehen. Also stiefelte ich los.

Der Bandit schaute mich gar nicht recht an, als ich ihm die Papierstreifen hinreichte. Er hielt sich das Mikrofon mit der rechten Hand ganz nahe vor den Mund und rief immer noch sein „Wünnewünnewünne!“ Mit der freien Hand nahm er die Papierstreifen an sich und warf einen ganz kurzen Blick darauf, bevor er sie einfach auf den Boden fallen ließ. Dort vor ihm lagen schon unzählige dieser Papiere, was mir jetzt erst auffiel. Bevor ich groß Zeit hatte darüber nachzudenken, ob man Papier einfach so auf die Straße werfen darf, lehnte sich der Bandit leicht nach hinten und griff, ganz ohne hinzusehen, in eine Plastikbadewanne, die hinter ihm unter den hohen Regalen stand. Fast genauso eine hatten wir auch zu Hause. Darin wurde abends immer meine kleine Schwester gebadet, als sie noch ein Baby war. Was der Bandit wohl in seiner Wanne hatte?

Der Mann kramte mit seiner linken Hand eine Weile darin herum und zog schließlich einen kleinen Gegenstand hervor, den er mir etwas unsanft in die Hand drückte. Seine Finger waren schwarz behaart und auf einem steckte zwischen den vielen Haaren ein gewaltig großer goldener Ring. Er hatte oben eine große quadratische Platte und sah aus, als könne er einem König gehören. Vielleicht war dieser Mann am Ende doch ein richtiger Bandit und hatte den Ring aus einem Schloss geraubt? Er wurde mir zunehmend unheimlich. Obwohl ich nicht erkennen konnte, was er mir da gegeben hatte,  schloss ich schnell meine Finger um den kleinen Gegenstand und lief zurück zu meinem Vater.

Dort fühlte ich mich sicher genug, meine Finger wieder zu öffnen und den Gegenstand zu betrachten. Ich traute meinen Augen kaum, als ich sah, was da in meiner ausgestreckten Hand vor mir lag. Es war ein Sheriffstern – ein richtiger, echter, silberner Sheriffstern. Ich hatte zwar noch nie einen echten Sheriffstern gesehen, aber ich erkannte es sofort. Er glänzte in der Sonne und jeder seiner Zacken war mit einem kleinen Silberkügelchen verziert. In der Mitte des Sterns befand sich ein Kreis mit einem Schriftzug. Wie du ja weißt, ich konnte noch nicht lesen, aber dass da natürlich  „Sheriff“ stand, war mir trotzdem klar und was das bedeutete, selbstverständlich auch. „Papa! Ich hab einen Sheriffstern!“ „Das ist doch schön. Wir wollen jetzt auch langsam mal los.“ Gut, meinem Vater war die Bedeutsamkeit  meiner Aussage offenbar nicht ganz klar, aber das war in Ordnung. Er kannte sich mit dem Thema eben nicht so gut aus wie ich. Schließlich hatte er auch meistens keine Zeit, um im Vorabendprogramm alte Western zu gucken. Ich aber wusste: Ich bin jetzt ein echter Sheriff! Ich folgte meinem Vater einfach kommentarlos, aber mit meinem kostbaren Stern fest in der Hand  zum Parkplatz, ich musste mir ja ohnehin in Ruhe ein paar Gedanken über meine zukünftigen Aufgaben machen. Als wir ins Auto einstiegen, hörte ich aus der Ferne immer noch das  „Wünnewünnewünne!“ des Banditen, der mich gerade zum Sheriff gemacht hatte.

Auf der Rückfahrt hatte ich genügend Zeit, den Sheriffstern von allen Seiten ganz genau zu betrachten. Es war ja nicht einfach nur ein silberner Stern, nein auf der Rückseite hatte er eine Nadel zum Anstecken. Genauso eine wie an der Brosche, die meine Mutter manchmal trug, wenn wir zu einem Fest eingeladen waren. Das fand ich sehr praktisch, denn so würde jeder vom Weiten gleich erkennen, dass ich zu den Guten gehöre, genau wie bei den Sheriffs im Fernsehen.

Beim Abendessen und auch noch später im Bett überlegte ich angestrengt, wie ich meine neue Arbeit als Sheriff morgen angehen würde. Ich brauchte die passende Kleidung und  eine gute Ausrüstung. Wo könnte ich den Banditen am besten auflauern? Und wenn ich sie vielleicht verfolgen müsste? Vielleicht könnte unser  Nachbar mir dafür eins seiner Pferde leihen. Außerdem musste ich noch einen geeigneten Ort finden, um all die Banditen einzusperren, die ich am nächsten Tag fangen würde. Ob unser Keller sich dafür eignen würde?  Fragen über Fragen. Irgendwann bin dann wohl darüber eingeschlafen und vielleicht träumte ich von lauten  Schießereien, wilden Verfolgungsjagden und großen Heldentaten. Aber den Sheriffstern hatte ich schon mal, den konnte mir so schnell keiner nehmen. Zur Sicherheit hatte ich ihn neben mich auf mein Kopfkissen gelegt. Kein Bandit sollte ihn stehlen können, noch bevor ich überhaupt richtig mit dem Sheriffsein angefangen hatte.

Was dann am nächsten Tag aus all den Fragen und Plänen wurde, erzähle ich dir beim nächsten Mal.

Hast du Lust weiter zu lesen? Hier geht es zum nächsten Teil der Sheriff-Geschichte:

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